„Inklusion umfasst alle Lebensbereiche“

Anuschla Bayer

Autor: Anuschla Bayer

Fotos: Stadt Münster

06.02.2025

Lieber Herr Lewe, Sie sind seit fast 16 Jahren Oberbürgermeister der Stadt Münster und Präsident des Deutschen Städtetages, wie wichtig sind Ihnen die Weiterentwicklung von Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in ihrer Stadt?

Für Menschen mit Behinderung Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern, ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und Benachteiligungen zu beseitigen oder zu verhindern, sind erklärte Ziele der Stadt Münster.

 

Welche Maßnahmen setzen Sie gezielt in Münster um, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu verbessern?


Wir arbeiten kontinuierlich an der Umsetzung einer neuen Beteiligungskultur – für alle Menschen in Münster, aber eben auch besonders für bislang wenig(er) gehörte Gruppen der Stadtgesellschaft. Dabei unterstützt der 2024 vom Rat beschlossene „Leitfaden Inklusive Beteiligung“. Bei dessen Erarbeitung haben uns zahlreiche Beteiligungspilotinnen und –piloten unterstützt, denn es war allen schnell klar: Nur Betroffene können wirklich beurteilen, inwieweit Beteiligungsangebote in Münster für Menschen mit Behinderungen geeignet und zugänglich sind – ganz nach dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nichts über uns ohne uns!“. Darüber hinaus gibt es in Münster immer mehr städtische Einrichtungen, die das Thema Inklusion neu mitdenken. So zum Bespiel das Theater Münster, das mit dem Format „Theater entspannt“ möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben möchte, die Produktionen in entspannter Umgebung zu erleben.

 

Haben Sie in Ihrem eigenen Leben Begegnungen gehabt, die Ihr Engagement für Inklusion geprägt haben? Gibt es ein Projekt oder ein Erlebnis, das Sie besonders bewegt hat?


Einer der großen Vorteile, die meine Tätigkeit als Oberbürgermeister und als Präsident des Deutschen Städtetags mit sich bringt, sind die vielfältigen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Diese Begegnungen prägen und bewegen mich, mein Denken und mein Handeln. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir aber eine Begegnung aus meiner Jugend. In einem Ferienlager habe ich mich mit einem Mädchen mit Behinderung angefreundet, deren Mutter in dem Lager als Köchin gearbeitet hat. Der Kontakt besteht glücklicherweise bis heute. Diese Freundschaft führt mir immer wieder vor Augen, wie herausfordernd das Leben mit Behinderung eben auch für die Eltern, Geschwister und weitere Familie ist. Der Einsatz und das Engagement der Mutter für ihr Kind haben mich schon damals sehr beeindruckt.

 

Als Mutter eines Sohnes mit Behinderung sehe ich, wie schwer es ist, in unserer Gesellschaft echte Akzeptanz zu erfahren. Was sind aus Ihrer Sicht die größten gesellschaftlichen Hindernisse, die überwunden werden müssen, damit Menschen mit Behinderungen und ihre Familien mit Würde und Respekt behandelt werden? 


Inklusion umfasst alle Lebensbereiche – egal, ob Bildung, Arbeit und Wirtschaft, Kultur, Sport oder Freizeit. Sie wirksam umzusetzen, das braucht ein gesellschaftliches Umdenken auf allen Ebenen. Dazu müssen auch zusätzliche Ressourcen eingesetzt werden. Und es braucht eine breite Unterstützung durch die Bevölkerung. Diese erreichen wir meiner vor allem durch unmittelbarer Erlebbarkeit von Inklusion. Ich bin mir sicher: Wann immer Menschen Inklusion hautnah als Bereicherung der Gesellschaft erleben können, werden sie auch aufmerksamer für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien.

 

Wie können angehende Lehrerinnen und Lehrer besser auf die Arbeit mit inklusiven Klassen vorbereitet werden? 


Inklusion ist in der Kindertagesbetreuung mittlerweile oft selbstverständlich. Ab der Einschulung der Kinder gibt es aber noch viel zu tun – in Münster setzen wir genau dort an. Für die Bereiche „Primar“ und „Sekundarstufe I“ haben wir beispielsweise jeweils eine Inklusionsfachberatung etabliert, die sich neben der Vernetzung von Lehrkräften und der Beratung zur inklusiven Unterrichts- und Schulentwicklung auch mit der Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Fachlichkeit beschäftigt.

 

Viele junge Menschen haben wenig Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen. Was könnte Ihrer Meinung nach getan werden, um schon früh Sensibilität und Respekt zu fördern? 


Wichtig sind die regelmäßigen Begegnungen zwischen Menschen im Alltag. Das fördert die Sensibilität und Respekt. Diese Begegnungen braucht es von klein an – sei es in der Kita, in der Schule, im Ganztag, beim Sport oder in der Freizeit insgesamt.

 

In einer immer leistungsorientierteren Gesellschaft geht oft der Blick für das Wertvolle jenseits von Produktivität und Leistung verloren. Wie können wir den Fokus stärker auf Werte wie Gemeinschaft und Empathie legen? 


In Zeiten, in denen der Umgangston in der Gesellschaft zunehmend rauer wird, wünsche ich mir grundsätzlich ein Mehr an Gemeinschaft und Empathie – und zwar für alle Menschen in unserer Stadtgesellschaft. Dazu gilt es zum einen tragfähige Strukturen zu schaffen, um uns den diversen Herausforderungen unserer Zeit zu stellen. Zum anderen ist es maßgelblich an uns, für unsere Werte ein- und aufzustehen: Für Toleranz, Vielfalt und Dialog, gegen jede Form von Hass, Hetze und Ableismus. Nur auf dieser Grundlage können wir gemeinsam die Zukunft unserer Stadtgesellschaft gestalten.

 

Welche Rolle können Städte und Kommunen spielen, um Inklusion als Grundwert unserer Gesellschaft zu fördern? Wie können Städte voneinander lernen, um diesen Weg gemeinsam zu gehen?


Inklusion ist für die Städte ein viel umfassenderes Thema als inklusive Bildung. Das haben viele Städte längst erkannt. Menschen mit Behinderungen benötigen barrierefreie oder barrierearme Wohnungen, deren Miete für sie bezahlbar ist. Ebenso entscheidet die Gestaltung des öffentlichen Raumes, gut erreichbare öffentliche Verkehrsmittel und der barrierefreie Zugang zu allen Einrichtungen des öffentlichen Lebens über ihre Teilhabemöglichkeiten. Inklusion muss in unseren Städten als große, gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit Leben gefüllt werden. In diesem Zusammenhang gilt mein großer Dank den vielen ehrenamtlichen, bürgerschaftlichen Initiativen und Vereinen, die diesen Prozess zum Teil schon jahrzehntelang und mit großem Engagement vorantreiben.

Zur Person


Markus Lewe ist seit 2009 Oberbürgermeister der Stadt Münster. Seit November 2021 ist er zudem Präsident des Deutschen Städtetags. Dieses Amt hatte er bereits von Januar 2018 bis Juni 2019 inne. Von Juni 2019 bis November 2021 war er Vizepräsident des Deutschen Städtetages.

 

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